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„Die Präsenz von OCHA in Niger ist für Hilfsorganisationen von enormer Wichtigkeit“

Was macht nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit aus? Lukas Orth, Programmkoordinator für Burkina Faso und Niger bei der Hilfsorganisation Help e.V., berichtet über die Kooperation mit dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) in Niger.

Ein Arzt hält einen Vortrag zum Thema Vorbeugung von Unterernährung bei Kindern
Ein Arzt hält einen Vortrag zum Thema Vorbeugung von Unterernährung bei Kindern. (Foto: Help e.V.)

DGVN: Was sind aktuelle Herausforderungen in Niger?

Lukas Orth: Niger, ein Binnenstaat in der Sahelregion in Westafrika, befindet sich seit Jahren in einer humanitären Dauerkrise, die sich aufgrund des Putsches einer elitären Gruppe aus dem Militär und der darauf erfolgten internationalen Reaktion nochmals verschärft hat. Von circa 26 Millionen Einwohnern sind infolge von extremistischer Gewalt aktuell eine halbe Million Menschen auf der Flucht, insgesamt sind etwa 4,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Besonders zahlreich und vulnerabel sind darunter Frauen sowie Kinder und Jugendliche. Der Bedarf der Menschen richtet sich in den meisten Fällen auf das Allernotwendigste: geflüchtete Menschen benötigen eine Notunterkunft und genügend zu essen, es mangelt in vielen Fällen zudem an Trinkwasser, medizinischer Versorgung und sanitären Einrichtungen.

Infolge des Militärputsches vom 26. Juli 2023 und der daraus resultierenden Sanktionspolitik der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (Economic Community of West African States - ECOWAS) und westlicher Industrienationen befindet sich das Land in einer ökonomisch zunehmend prekären Lage. Die Preisinflation verschärft die humanitäre Situation vieler Menschen. Die Schließung von Landesgrenzen und die Aussetzung humanitärer Inlandsflüge, welche vormals von den Vereinten Nationen angeboten wurden, beeinträchtigt die Arbeit humanitärer Akteure zudem massiv. All dies geht zulasten von Menschen, die in extremer Armut leben und auf humanitäre Hilfe von außen angewiesen sind.

Könnten Sie kurz etwas zur Projektarbeit in Niger erzählen. Welche Projekte führt Help e.V. dort durch?

Help – Hilfe zur Selbsthilfe ist seit 2005 in Niger durch seine humanitäre Arbeit präsent. Aktuell führen wir mit Finanzierungen des Auswärtigen Amtes, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen Projekte in fast allen Landesteilen durch: in Tillabéri im Länderdreieck zu Burkina Faso und Mali, in Diffa, Agadez und Tahoua. Unser Fokus richtet sich dabei auf besonders gefährdete Menschen – Säuglinge, Kinder und Jugendliche, Frauen, Menschen mit Behinderungen und Menschen, die sich auf der Flucht vor Gewalt befinden. Deren Bedarfen möchten wir durch unsere Arbeit begegnen, indem wir Notunterkünfte bereitstellen, Essens- und Hygienepakete verteilen, für ausreichend Trinkwasser sorgen und eine medizinische Versorgung sicherstellen. Aufgrund der ungewissen Sicherheitslage in manchen Teilen des Landes hat sich die humanitäre Krise in Niger inzwischen jedoch verstetigt. Deshalb versuchen wir innerhalb unserer humanitären Maßnahmen das Prinzip von „Hilfe zur Selbsthilfe“ in den Vordergrund zu rücken. Wir beziehen die Begünstigten unserer Projekte in die verschiedenen Maßnahmen mit ein, sodass sie im besten Fall in die Lage versetzt werden, sich aus ihrer Notlage selbst zu befreien und den Lebensunterhalt für sich und die Familie zu bestreiten. Aus diesem Grund unterstützen wir ebenfalls Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit Knowhow und Material, bauen solarbetriebene Trinkwasseranlagen, arbeiten mit lokalen Partnern an der sozialen Kohäsion und fördern das lokale Schulwesen bei der Eingliederung geflüchteter Kinder. Die Ernährungssicherung von Säuglingen und Kleinkindern sowie das Wohlergehen schwangerer Frauen und junger Mütter ist uns zudem ein besonderes Anliegen. Unsere Projekte, die vom UN-Kinderhilfswerk (United Nations Children’s Fund - UNICEF) finanziert werden, konzentrieren sich allein darauf.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – OCHA) ab?

Die Präsenz von OCHA in Niger ist für Hilfsorganisationen im humanitären Bereich von enormer Wichtigkeit – als Informationsquelle, als Koordinierungsinstrument und als Sprachrohr für humanitäre Belange auf politischer Ebene. OCHA führt in Niger monatlich ein humanitäres Forum durch, in dem über die aktuelle humanitäre Lage berichtet wird. Mit Zahlen zu Inlandsvertriebenen, zur Ernährungssituation und zu aktuellen Finanzierungen sowie mit Analysen zur Sicherheitssituation und zur Abdeckung humanitärer Bedarfe. In diesem Kontext koordiniert OCHA zudem die Arbeit humanitärer Akteure, sodass jederzeit klar ist, welche Organisation aktuell einen konkreten Bedarf bearbeitet. Somit entstehen keine Dopplungen bei der Arbeit von Hilfsorganisationen. Gleichzeitig organisiert OCHA sektorielle Treffen zwischen den verschiedenen Akteuren, um beispielsweise im Bereich Trinkwasserversorgung, Ernährungssicherung oder akute Nothilfe einen Wissens- und Koordinierungsaustausch zu erreichen.

OCHA arbeitet in Niger zudem seit 2021 mit einem eigenen Finanzierungsfonds enger mit Hilfsorganisationen in dem Land zusammen. Help – Hilfe zur Selbsthilfe führt seit Oktober dieses Jahres bereits das zweite Projekt durch, das mit Geldern von OCHA finanziert wird. In diesem Projekt leisten wir in der Region rund um die Stadt Torodi multisektorielle Hilfe für geflüchtete Personen sowie für vulnerable Haushalte der Gastgemeinden. Konkret ausgedrückt werden im Rahmen dieses Projekts Trinkwasseranlagen und Latrinen gebaut, Hygiene-Kits verteilt, eine „Klinik auf Rädern“ betrieben sowie Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit Saatgut und Gartenbaumaterial versorgt.

Foto von Lukas Orth, Programmkoordinator Burkina Faso und Niger bei Help e.V.
Lukas Orth, Programmkoordinator Burkina Faso und Niger bei Help e.V. (Foto: Help - Hilfe zur Selbsthilfe)

Was verstehen Sie unter nachhaltiger Entwicklungszusammenarbeit?

Die Prämisse der Nachhaltigkeit – sowohl im humanitären Rahmen als auch in der Entwicklungszusammenarbeit spielt in unserer Arbeit eine wesentliche Rolle. Dabei deckt dies unterschiedliche Bereiche ab. Bevor wir mit einem neuen Projekt beginnen, stellen wir uns mehrere Fragen: Was könnten potenzielle Auswirkungen unserer Maßnahmen auf Umwelt und Klima sein? Welche Risiken – sozialer, ökonomischer und ökologischer Natur – sind mit unserer Projektidee verbunden und wie können wir diese Risiken minimieren? Wie stellen wir sicher, dass unser Projekt erstens von der lokalen Bevölkerung angenommen wird und zweitens nach Projektende im Sinne der Nachhaltigkeit weitergetragen wird? Um auf diese Fragen die richtigen Antworten zu finden, verfolgt Help verschiedene methodische Ansätze. Mit unseren Kolleginnen und Kollegen vor Ort oder in Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen wird vor Projekteinreichung ein Assessment durchgeführt, in dem all diese Fragen Anwendung finden. Dabei wird je nach Komplexität der geplanten Intervention auch externe Expertise in Anspruch genommen. Wichtig ist dabei immer, dass wir uns die verschiedenen Wirkungsbereiche einer Aktivität bewusst machen. Wenn wir beispielsweise ein lokales Gesundheitszentrum mit medizinischem Material ausstatten möchten, müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, was nach der Nutzung dieses Materials damit geschieht. Aus diesem Grund ist eine solche Hilfe nur in Verbindung mit dem Bau von speziellen Verbrennungsöfen vorstellbar.

Ganz allgemein sehen wir bei Help – Hilfe zur Selbsthilfe die Lokalisierung von Maßnahmen als besten Weg, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit nachhaltig zu gestalten. Die Zusammenarbeit mit lokalen Partnerorganisationen, welche den Bedarf und Lösungsansätze am besten einschätzen können, ist ein besonderes Merkmal unserer strategischen Ausrichtung. Die Übertragung von Projektverantwortung in lokale Hände steigert zudem die Identifikation der Begünstigten mit Projektinhalten und führt dazu, dass Projektinhalte auch nach offiziellem Projektende weiterbestehen. Mit dieser Überzeugung sollen bis 2025 60 Prozent unseres Projektvolumens durch lokale Partner umgesetzt werden.

Welche Rolle spielen die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) für Ihr Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit und Ihre Projekte?

Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen aus der Agenda 2030 legen den Rahmen fest, nach dem wir als Hilfsorganisation unsere Projekte konzipieren. Sie bieten Inspiration und Orientierung, nach denen wir unsere Arbeit ausrichten. Gleichzeitig fungieren die SDGs wie eine gemeinsame Basis, auf die sich alle Akteure in der täglichen Arbeit, im Austausch miteinander und mit staatlichen Akteuren berufen können. Für unsere Arbeit in Niger beziehen wir uns insbesondere auf die folgenden Ziele: Kein Hunger, keine Armut, Gesundheit und Wohlergehen, sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen sowie die Förderung von Geschlechtergleichheit. Im Rahmen unserer zivilgesellschaftlichen Rolle setzen wir uns außerdem für die Förderung von Frieden und den Schutz der Umwelt ein.


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