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Extremismus – eine Frage der Entwicklung

Die UNDP-Studie „Journey to Extremism in Africa“ zeigt Ursachen von Radikalisierung auf. Bei einer Veranstaltung der DGVN und der Hertie School of Governance diskutierten UN-Vertreter, Wissenschaftler und Sicherheitskräfte Befunde und Lösungsansätze.

Cover der UNDP-Studie.

Nach jedem terroristischen Anschlag, der unschuldige Zivilisten verletzt und in den Tod reißt, drängt eine Frage in Vordergrund: Warum? Was bewegt Menschen zu solch brutalen Taten, was treibt sich in die Radikalisierung?

Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP hat sich dieser Frage angenommen und nach Antworten bei denen gesucht, die es am besten wissen müssen: In sechs afrikanischen Ländern, darunter Nigeria, Sudan und Somalia, wurden über zwei Jahre mehr als 700 Menschen befragt, die Mehrheit unter ihnen ehemalige Mitglieder extremistischer Gruppen.

Herausgekommen ist eine Studie unter dem Titel „Journey to Extremism in Africa“, die Ursachen, Anreize sowie konkrete Auslösererlebnisse für Radikalisierung aufzeigt. Julian Wucherpfennig, Assistant Professor für International Affairs and Security an der Hertie School of Governance, sieht darin einen wichtigen Beitrag. Denn „Terrorismus ist eines der Themen, bei denen die Diskrepanz zwischen einer oft emotionalen öffentlichen Debatte und wissenschaftlichen Erkenntnissen am größten ist“, so Wucherpfennig.

Afrika – ein Kontinent unter dem Radar

In Fragen von Frieden und Sicherheit spielt der afrikanische Kontext in der öffentlichen Wahrnehmung hierzulande oft eine untergeordnete Rolle. Terroristische Bedrohungen werden zuallererst mit Konfliktherden im Nahen und mittleren Osten assoziiert. Doch extremistische Gruppen wie Boko Haram in Nigeria, Al-Shabaab in Ost-Afrika oder die LRA in Zentralafrika haben zwischen 2011 und 2016 schätzungsweise über 33.000 Todesopfer zu verantworten. Sie zerstören Infrastrukturen, destabilisieren weite Regionen und machen damit Entwicklungsfortschritte zunichte. Und der Extremismus in Afrika ist auf dem Vormarsch: Zwischen 2011 und 2016 gab es laut dem Report mit über 5700 terroristischen Attacken mehr als dreimal so viele wie in den zehn Jahren zuvor.

Lamin Manneh hat an dem Report „Journey to Extremism“ mitgearbeitet. Der Gambier ist Leiter des UNDP Regionalbüros für Afrika. Zuvor war er Regionaler Koordinator der UN in Ruanda und Kongo. Er erklärt bei der DGVN-Veranstaltung in Berlin: „Das Problem wird Europa einholen und tut es schon jetzt. Denn Terrorismus und seine Folgen sind ein zentraler Auslöser für Migrationsbewegungen.“ Zwar werde in Europa häufig über die Bekämpfung von Fluchtursachen gesprochen, er sehe jedoch nicht, dass die Wurzel der Probleme von den betreffenden Akteuren angegangen werde.

Kein Feld für UNDP?

Die UNPD-Studie ist nicht nur wegen ihres Fokus auf Afrika ein Novum. „Als wir das Projekt vorbereiteten, wurde uns von verschiedensten Seiten signalisiert: Extremismus, damit habt ihr als Entwicklungsprogramm nichts zu tun“, erzählt Manneh. Ein klarer Fehlschluss, wie er meint und wie auch UNDP-Chef Achim Steiner kürzlich in Berlin verdeutlichte.

Denn Extremismus, so legt der Report nahe, hängt gleich in mehrfacher Hinsicht mit Entwicklung zusammen: Wo Bildung, Arbeitsplätze und ein staatliches Versorgungssystem fehlen, steigt die Gefahr von Radikalisierung und der Einfluss extremistischer Kräfte. Umgekehrt zerstören und hemmen extremistische Bewegungen Entwicklungsfortschritte, da sie Infrastruktur zerstören, Korruption und Ausbeutung fördern und staatliche Strukturen destablisieren.

Die Zusammenhänge zwischen (fehlender) Entwicklung und Extremismus erlauben auch einen differenzierten Blick auf die großen Trends des Afrikanischen Kontinents. Makroökonomische Analysen bescheinigen vielen Staaten ein beachtliches Wachstum. Doch es lohnt, so meint Manneh, ein Blick hinter die abstrakten Zahlen. Denn oft geht der wirtschaftliche Aufschwung nicht mit der Schaffung würdevoller Jobs einher. Die Arbeitslosigkeit und Marginalisierung großer Bevölkerungsteile schwindet nicht, sondern nimmt angesichts hoher Geburtenzahlen im Zweifel sogar zu. 

Ursachen und Schlüsselerlebnisse

Radikalisierung, in dieser Hinsicht sind sich die meisten Wissenschaftlerinnen einig, ist ein hochkomplexer Prozess. Es gibt keine einfachen Erklärungen, keine zwingenden Kausalitäten für die Entschlüsse von Menschen, die sich extremistischen Gruppen anschließen. Der UNDP-Report geht auf diese Komplexität ein und nimmt eine enorme Breite von Faktoren in den Blick: Von Gefühlen in der Kindheit, über das ökonomische Umfeld bis zu Traumata als Auslöser.

Neben den wenig überraschenden Befunden, dass Armutserfahrungen, Marginalisierung, Arbeitslosigkeit und geringe Bildung eine Radikalisierung begünstigen, liefert der Bericht gerade in Punkto Religion Erkenntnisse, die antiislamischen Vorurteilen den Boden entziehen.

So wird auf Grundlage der Interviews festgestellt, dass viele Religion zwar als wichtiges Motiv angeben, jedoch kaum religiös gebildet sind und oft nicht in der Lage, entsprechende Texte zu verstehen. Zudem spielen religiöse Autoritäten bei der Rekrutierung nur eine marginale Rolle. In der Regel sind es Nachbarn und Freunde mit ähnlich geringer Kenntnis, die diese Aufgabe übernehmen. Eine theologische Bildung, sowie die Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit religiösen Thesen machen die Menschen gegenüber Indoktrinierung und Heilsversprechen weniger anfällig.

Ein weiterer Faktor, der in der Extremismusforschung vielfach thematisiert wurde und auch im UNDP-Report Bestätigung findet, ist staatliche Instabilität sowie eine Kluft zwischen staatlichen Akteuren und der Zivilbevölkerung. So berichtete eine große Mehrheit der Befragten von einem enormen Misstrauen gegenüber der Regierung und den Sicherheitskräften. „Es hat mich verrückt gemacht. Ich konnte nur noch daran denken, dass die Regierung voller Ungläubiger, Abtrünniger und Heuchler ist“, wird ein 28jähriger in dem Report zitiert. Auch die Sozialwissenschaftlerin Alexandra Scacco, die viele Jahre in Nigera geforscht hat, teilt den Eindruck, dass Angst und Unsicherheit im Alltag – zum Teil ausgelöst durch staatliche Akteure und Sicherheitskräfte – die Menschen zu verzweifelten Entscheidungen treiben.

Weil verbreitete Phänomene wie Armut oder Staatsversagen aber noch nicht erklären, warum sich unter ähnlichen Bedingungen einige zur Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung entschließen, andere jedoch wiederstehen, definiert der Report auch sogenannte tipping-points. Gemeint sind Schlüsselerlebnisse, die als Auslöser für eine freiwillige Beteiligung in extremistischen Bewegungen wirkten. Die Sammlung dieser tipping points bestärkt Zweifel an der Effizienz rein militärischer Anti-Terror-Maßnahmen. Denn oft ist es der Verlust von Angehörigen durch militärische Angriffe, die traumatische Erfahrung von Bombardements und Zerstörung – auch im Zuge von Anti-Terror-Maßnahmen -, die den Drang nach Rache und Selbstermächtigung entfacht. „Wenn sich militärische Player wie die USA oder die NATO oft fragen, warum ihr jahrelanger Kampf gegen den Terror nicht fruchtet, dann liegt das auch daran“, erklärt Lamin Manneh. Natürlich brauchen wir robuste Anti-Terror-Maßnahmen, aber sie müssen in ein ganzheitliches Konzept eingebettet sein.

Die Antworten der Internationalen Gemeinschaft

Im Aktionsplan der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des gewaltbereiten Terrorismus, der vom ehemaligen Generalsekretär Ban Ki-Moon erarbeitet wurde, werden Präventionsmaßnahmen ins Zentrum gestellt. Der Plan drängt darauf, Ressourcen der internationalen Gemeinschaft zu bündeln und mit umfassenden Ansätzen, die eine Vielzahl von Stakeholdern einschließen, die zugrundeliegenden Ursachen des Problems anzugehen. Der UNPD-Report schließt an diese Strategie an, stellt jedoch auch fest, dass die Praxis noch immer anders aussieht: Die Stärkung von Sicherheitsapparaten als Antwort auf Extremismus dominiert gerade in Afrika die internationale Hilfsagenda. Weil aber Misstrauen gegenüber korrupten staatlichen Organen und Sicherheitskräften eine wichtige Ursache von Radikalisierung zu sein scheint, appelliert der Report an die internationalen Entwicklungspartner, nicht allein auf die Stärkung des Staates zu setzen, sondern Rechtstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte sowie accountability und Inklusivität von Institutionen ins Zentrum zu stellen.

Neben der inhaltlichen Ausrichtung von Präventionsmaßnahmen, stellt aber auch deren Umsetzung vor Ort eine Herausforderung dar. Denn nicht nur die jeweilige Regierung wird in Risikoregionen oft als Widersacher wahrgenommen, auch die Vereinten Nationen erfahren Misstrauen.  Besonders erfolgversprechend, so erzählt Lamin Manneh, seien Netzwerke, die eine große Breite an Stakeholdern einschließen. UNDP arbeite beispielweise mit religiösen Autoritäten zusammen und schule diese. Zudem versuche man, eine engere Verbindung zu den Sicherheitskräften herzustellen, um ihnen die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung nahezubringen.

Manneh setzt auch große Hoffnungen in die angestoßenen Reformen des UN-Entwicklungssystems. Diese zielen unter anderem darauf ab, die Arbeit der verschiedenen UN-Organisationen vor Ort stärker zu verzahnen und einer ganzheitlichen Strategie unterzuordnen.

Hier können Sie den englischsprachigen Bericht im PDF-Format herunterladen.