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„Etwa 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben von weniger als einem Dollar pro Tag.“

Die Machtübernahme der Taliban 2021 war eine Zäsur für Afghanistan. Wie hat sich die Entwicklungszusammenarbeit vor Ort verändert? Ein Interview mit Kanni Wignaraja, beigeordnete Generalsekretärin, beigeordnete Administratorin und Direktorin des Regionalbüros für Asien und den Pazifik des UNDP.

Porträtfoto von Kanni Wignaraja
Kanni Wignaraja ist seit November 2019 beigeordnete Generalsekretärin, beigeordnete Administratorin und Direktorin des Regionalbüros für Asien und den Pazifik des UNDP. (Foto: UNDP)

DGVN: Wie hat sich die Arbeit des UN-Entwicklungsprogramms (United Nations Development Programme – UNDP) seit August 2021 verändert?

Kanni Wignaraja: Afghaninnen und Afghanen befinden sich in einer extremen Notlage. Etwa 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben von weniger als einem Dollar pro Tag. Die Situation hat sich nach August 2021 deutlich verschlechtert, insbesondere für Frauen, die nun mit starken Einschränkungen konfrontiert sind, die ihnen den Zugang zu Bildung und den meisten Jobs verwehren. Das UNDP musste sich auf diese neue Situation einstellen, indem es bestehende Programme umstellte und ein gebietsbezogenes integriertes lokales Entwicklungsprogramm namens ABADEI einführte.

Wir konzentrieren uns auf die direkte Unterstützung von Unternehmen, die von Frauen geführt werden, auf Grundversorgungsleistungen, erneuerbare Energien und die Bewältigung von Naturkatastrophen, um die lokale Wirtschaft am Laufen zu halten und die Nahrungsmittel- und Energiesicherheit zu gewährleisten. Die Entwicklungsfinanzierung für Afghanistan wird immer knapper. Aus der jüngsten UNDP-Studie geht hervor, dass das reale Bruttoinlandsprodukt Afghanistans seit 2020 um 29 Prozent gesunken ist und sich die Abwärtsspirale fortsetzt. Schätzungen zufolge haben allein die Einschränkungen der Rechte von Frauen einen wirtschaftlichen Schaden von 600 Millionen bis 1 Milliarde US-Dollar verursacht.

Afghanistan wurde im Oktober von einem schweren Erdbeben erschüttert. Was unternimmt das UNDP derzeit zur Bewältigung der Folgen dieser Katastrophe?

Die vom Erdbeben betroffenen Gebiete um Herat sind schlecht auf eine solche Katastrophe vorbereitet und kämpfen bereits mit einer selbst für afghanische Verhältnisse hohen Armut. Etwa 1.500 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, kamen ums Leben, und 150.000 Menschen versuchen, ihr Leben wieder aufzubauen. Wohin man sich auch wendet, die Zerstörung ist überwältigend.

Wichtige Infrastrukturen wie Schulen, Straßen, Kliniken und Wasserversorgungssysteme wurden schwer beschädigt. Das UNDP hat in enger Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und anderen Partnern schnell gehandelt, um Soforthilfe zu leisten und vor allem den Wiederaufbau in den Gemeinden zu unterstützen. Neben der Wiederherstellung grundlegender Strukturen wie Schulen und Kliniken unterstützen wir die betroffenen Gemeinden durch die Bereitstellung von Unterkünften, die Ausgabe warmer Mahlzeiten, die Beseitigung von Trümmern und die Förderung des Zugangs zu Energie und Wasser. Unsere Pläne gehen über die Bereitstellung von Soforthilfe hinaus. Wir haben ein umfassendes Wiederaufbaupaket für über 100 schwer betroffene Dörfer ausgearbeitet, das den Wiederaufbau von Häusern, die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Zugang zu Energie und Wasser umfasst. Wir unterstützen aktiv von Frauen geführte Unternehmen, um ihnen den Neustart zu erleichtern.  Der Wiederaufbau ist ein langer Prozess. Wir sind zutiefst dankbar für die internationale Unterstützung, die wir bisher für diese Wiederaufbaumaßnahmen erhalten haben, aber es wird noch viel mehr Unterstützung benötigt.

Welchen Einfluss hat das Erdbeben für die unsichere Ernährungslage in Afghanistan?

Das Erdbeben hat die ohnehin schon katastrophale Ernährungsunsicherheit in Afghanistan weiter verschärft, die sich mit dem Winter noch verschlimmern wird. Bei der Ernährungssicherheit geht es im Wesentlichen um die Erzeugung, Verteilung und den Handel mit lokalen Produkten, denn Lebensmittel müssen zugänglich und bezahlbar sein. Das UNDP geht dieses Problem unter anderem durch den Ausbau von Gemeinschaftsküchen an. Diese von Frauen geleiteten Küchen ernähren nicht nur die Familien, sondern bieten ihnen auch eine zusätzliche Einkommensmöglichkeit. Allein in Herat haben seit Anfang Oktober 6.000 Menschen die Küchen genutzt, um eine warme Mahlzeit zu erhalten, und 30 weitere Küchen werden gerade eingerichtet. Ernährungsunsicherheit ist nach wie vor ein komplexes Problem, das eine vielschichtige Lösung erfordert. Nehmen wir zum Beispiel sauberes, trinkbares Wasser. Die Erdbeben haben die Wasserquellen entweder verschmutzt oder zerstört. Dies beeinträchtigt nicht nur die menschliche Gesundheit, sondern bedroht auch die Viehbestände, die für die von Armut betroffenen Gemeinschaften eine wichtige Nahrungs- und Einkommensquelle darstellen.

Wie versucht UNDP im Bereich der Geschlechtergleichheit zu agieren? Ist es möglich, mit afghanischen Frauen in Kontakt zu treten und zu arbeiten?

Obwohl die Arbeit von Frauen und ihre Rolle im öffentlichen Leben stark eingeschränkt sind, arbeiten die Vereinten Nationen und ihre Partner weiterhin für und mit Frauen in Bereichen, in denen Ausnahmen gelten, Genehmigungen erteilt wurden oder lokal angepasste Lösungen existieren. Wir müssen sicherstellen, dass afghanische Frauen und Mädchen nicht doppelt gestraft werden. Das jüngste Erdbeben in Afghanistan verdeutlicht eindringlich die sozialen Einschränkungen und finanziellen Hindernisse, die Frauen in eine so prekäre Lage bringen. Eine Turnkey-Lösung (Anm.: engl. für „schlüsselfertige Lösung“) - um einen Begriff aus der Wirtschaft aufzugreifen - für den Wiederaufbau einer Wirtschaft ist die Stärkung der Frauen. Das gilt auch für Afghanistan. Das bedeutet, dass kleine Unternehmen, die von Frauen geführt und geleitet werden, gefördert und unterstützt werden müssen. Der Ansatz 'Frauen für Frauen' stattet Frauen mit den beruflichen Fähigkeiten und dem finanziellen Wissen aus, um Arbeitsplätze zu schaffen und andere Frauen zu beschäftigen.

Es ist ein Weg, den afghanischen Frauen in ihrem Kampf zur Seite zu stehen und Mittel zu finden, um sie zu unterstützen. Gleichzeitig sollten wir uns dafür einsetzen, dass die von den faktischen Machthabern auferlegten Beschränkungen aufgehoben werden. Die Lage in Afghanistan sieht in der Tat düster aus, vor allem für Frauen. Aber die internationale Gemeinschaft darf die afghanischen Frauen nicht vergessen und muss sich weiterhin dafür einsetzen, dass ihre Sichtbarkeit nicht verloren geht, ihre Stimmen lauter werden und sie Hoffnung schöpfen.

Was sind die langfristigen Ziele von UNDP für (die Arbeit in) Afghanistan?

Das UNDP arbeitet seit über 50 Jahren mit Afghanistan in einer Reihe von wichtigen Fragen zusammen, darunter Klimawandel, Gleichstellung der Geschlechter, Gesundheit und vieles mehr. Unser Hauptziel bleibt unverändert: die Unterstützung des afghanischen Volkes in seinem Streben nach Frieden und Wohlstand. In enger Zusammenarbeit mit anderen UN-Organisationen bemühen wir uns, die Produktionskapazitäten des Landes wieder aufzubauen und die lokalen Gemeinschaften zu stärken. Wir sind dankbar für das Vertrauen unserer Partner, die in unsere Arbeit investiert haben, aber diese Bemühungen müssen ausgeweitet und nicht gekürzt werden. Vor August 2021 finanzierten ausländische Hilfsgelder 75 Prozent der öffentlichen Ausgaben Afghanistans. Heute ist es viel weniger. Die Finanzmittel, die in das Land geflossen sind, stagnieren derzeit, und das könnte schwerwiegende Folgen für die wirtschaftlichen Aussichten des Landes haben. Die Höhe der in den Jahren 2023 und 2024 bereitgestellten Entwicklungshilfe wird die künftige Notfall-Reaktionsfähigkeit und den Wiederaufbau Afghanistans stark beeinflussen. Das afghanische Volk hat eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit bewiesen und verdient jede Gelegenheit, seine Fähigkeiten auszubauen und seine Existenzgrundlage und Würde wiederzuerlangen.

Können Sie uns konkrete Projekte nennen, an denen UNDP derzeit arbeitet?

Das UNDP arbeitet in verschiedenen Bereichen wie der Unterstützung der Konjunkturerholung, der Klimaresilienz und der sozialen Eingliederung. Ein Hauptmerkmal ist unser Fokus auf gemeinschaftsbasierte Initiativen und den Aufbau lokaler wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit. In Herat beispielsweise, die Provinz, in der die Erdbeben stattfanden, führt UNDP eines der größten Programme durch. Unsere Initiativen haben die lokale Wirtschaft angekurbelt und Frauen gestärkt, indem wir Tausende von Kleinunternehmen in Frauenhand unterstützt haben. Außerdem haben wir über hundert Bewässerungskanäle gebaut, um die landwirtschaftliche Produktivität in der Region zu steigern. Im ganzen Land haben wir landwirtschaftlichen Haushalten geholfen, Einkommensmöglichkeiten zu schaffen, zum Beispiel durch Gartenbau, Geflügelzucht und Bienenzucht.

In ganz Afghanistan hat die finanzielle und technische Unterstützung für von Frauen geführte Kleinunternehmen zur Schaffung von Tausenden von Arbeitsplätzen geführt. Im Jahr 2023 hat UNDP bisher 458 kleine Infrastrukturprojekte umgesetzt, die über eine Million Menschen einen besseren Transport und Zugang zu Märkten ermöglichen. Wir haben den Gemeinden auch geholfen, sich an den Klimawandel anzupassen, indem wir überschwemmungsresistente Infrastrukturen und dürreresistente Nutzpflanzen zur Verfügung gestellt haben. Es handelt sich dabei auch um einkommensschaffende ‚Cash-for-Work‘-Programme (Anm.: direkt entlohnte Beschäftigungsmaßnahmen). Wir setzen uns weiterhin für eine nachhaltige und wirksame Unterstützung der Menschen in Afghanistan ein. Es gibt noch so viel mehr, was getan werden muss und getan werden kann.


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