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Diplomatischer Streit um die Westsahara

Anfang März diesen Jahres tat der oberste Diplomat der Vereinten Nationen (VN), General-sekretär Ban Ki-moon, etwas äußerst undiplomatisches. Er bezeichnete das Vorgehen Marokkos in der Westsahara als „Besatzung.“ Seitdem droht die Friedensmission „UN Mission for the Referendum in Western Sahara“ (MINURSO) auseinanderzufallen. Denn Marokko reagierte äußerst ungehalten und verwies fast alle zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von MINURSO der Westsahara.

Sahraurische Flüchtlinge im Smara Flüchtlingslager während des Besuch des Generalsekretärs Anfang März. (UN Photo/Evan Schneider)

Anfang März diesen Jahres tat der oberste Diplomat der Vereinten Nationen (VN), General-sekretär Ban Ki-moon, etwas äußerst undiplomatisches. Er bezeichnete die „Präsenz“ Marokkos in der Westsahara als „Besatzung.“ Seitdem droht die Friedensmission „UN Mission for the Referendum in Western Sahara“ (MINURSO) auseinanderzufallen. Denn Marokko reagierte äußerst ungehalten und verwies fast alle zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von MINURSO der Westsahara. 

Dieser Artikel stellt die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Westsahara-Konfliktes vor und gibt Einblicke in die politischen Dynamiken rund um die Erneuerung des MINURSO-Mandates Ende April. Für Interessierte der internationalen Politik hält er interessante Fragestellungen bereit. Sollte ein Generalsekretär einen politisch aufgeladenen Begriff in privater Kapazität nutzen dürfen? Wann ist territoriale Integrität und wann das Recht auf Selbstbestimmung der geltende Wert? Wann erreicht man ein politisches Ziel mit stiller und wann mit lauter Diplomatie? Und geschieht deren Selektion auf Grundlage politischer Überzeugung oder politischer Opportunität?

Eingefrorener Konflikt

Seit 1963 wird die Westsahara von den VN als „Gebiet ohne Selbstregierung“ geführt. Mit anderen Worten: Die Westsahara hat immer noch den Status einer Kolonie. Kaum 200km entfernt von der beliebten Urlaubsinsel Gran Canaria, gehört der Konflikt zu den weltweit vergessenen und eingefrorenen. 1975 hatte Marokko die vormals spanische Kolonie annektiert. Dabei beruft sich das Königreich auf historische, soziale und juristische Verknüpfungen zwischen beiden Territorien und deren Bevölkerungen. Es folgte ein 15 Jahre währender Krieg mit der Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario. Diese war von der autochthonen Bevölkerung der Westsahara, den Sahrauis, zum Ende der spanischen Kolonialherrschaft gegründet worden. 1991 rief der Sicherheitsrat die Friedensmission MINURSO ins Leben, um einen Prozess zur Bestimmung des völkerrechtlichen Status der Westsahara in Gang zu setzen. Doch dieser kam nie ins Rollen. Heute herrscht weder Krieg noch Frieden, noch gibt es eine Aussicht auf Besserung in der Westsahara. Von den weltweit geschätzten 400.000 Sahrauis leben 150.000 in der Westsahara. 165.000 hingegen leben in Flüchtlingslagern rund um das algerische Tindüf. In Letzteren ließ sich Ban Ki-moon zu seinem verhängnisvollen Kommentar hinreißen.

Vorwurf der fehlenden politischen Neutralität

Mit dem „Besatzungskommentar“ habe die VN ihre Kredibilität und Integrität in dem Konflikt verspielt, begründet Marokko den Rausschmiss des politisch agierenden Personals von MINURSO. Für seine Wortwahl entschuldigte sich der Generalsekretär einige Tage später. Er versuchte deutlich zu machen, dass es sich bei seiner Aussage um einen spontanen und persönlichen Kommentar handelte. Demzufolge waren die Eindrücke von den prekären Lebensbedingungen und der Hoffnungslosigkeit der Menschen in den Flüchtlingslagern ausschlaggebend für seine Wortwahl. Eine offizielle Positionierung der VN sei die Wortwahl jedoch nicht gewesen. Doch fest steht auch, dass der Generalsekretär mit seinem Besuch ganz bewusst ein Zeichen gegen das Vergessen des Konfliktes setzen wollte. Sein Besuch war der erste eines Generalsekretärs seit 1998.

Politische und rechtliche Unterstützung der Konfliktparteien

Wichtige Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates unterstützen den Anspruch einer „marokkanischen Sahara.“ Frankreich und Senegal befürworten Marokkos Vorschlag, die Westsahara mit weitreichenden Autonomierechten in Marokkos Territorium einzugliedern. Doch auch die USA, Spanien und Ägypten sehen in ihm das Potential zur Lösung des Konfliktes. Die Gründe für diese Zustimmung sind politischer, nicht rechtlicher Natur. Sie reichen von Partnerschaft im Antiterrorkampf und der Migrationsbewältigung über enge Handels- und Tourismusbeziehungen bis hin zu Bestrebungen, einen weiteren failed-state in Afrika verhindern zu wollen.

Der politischen Opportunität einer solchen Lösung stehen jedoch wichtige Interpretationen der VN-Charta der letzten 40 Jahre entgegen. In ihren Entscheidungen hat die internationale Gemeinschaft wiederholt das Recht auf Selbstbestimmung der Sahrauis gestärkt, während Marokkos territoriale Integritätsansprüche delegitimiert wurden. 1975 entschied der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem Rechtsgutachten, dass es zwar Verknüpfungen zwischen Marokko und der Westsahara gibt, diese jedoch keinen Anspruch auf territoriale Souveränität über das Gebiet der Westsahara rechtfertigen. Stattdessen spricht sich das Gericht für das Recht auf Selbstbestimmung der „Menschen der Westsahara“ aus. Der Antrag zum Gutachten war ursprünglich von Marokko initiiert worden, um die Legitimität seiner territorialen Ansprüche zu untermauern. Auch die Generalversammlung hat sich wiederholt für das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der „Menschen der Westsahara“ ausgesprochen. In mehreren Resolutionen (z.B. A/RES/34/37; A/RES/35/19) wird der Begriff „anhaltende Besatzung durch Marokko“ verwendet. Die Wortwahl des VN-Generalsekretärs ist also kein Präzedenzfall. Im Juni 2015 wurde die Frente Polisario darüberhinaus als legitimer Repräsentant der Sahrauis anerkannt, als die schweizerische Eidgenossenschaft die Deklaration der Frente Polisario zur Einhaltung der Genfer Konvention von 1949 akzeptierte.

Zweigeteiltes MINURSO-Mandat

Generalsekretär Ban Ki-moon gemeinsam mit Friedenstruppen von MINURSO in deren Quartier in Bir Lahlou. (UN Photo/Evan Schneider)

MINURSO besteht aus insgesamt 244 Blauhelmen sowie 84 zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Entsprechend ist die Mission in ein militärisches und ein politisches Mandat gegliedert. Die Menschenrechtskomponente hingegen fehlt. Das Personal von MINURSO hat keine Kompetenzen, die vielfältigen Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Die VN-Soldaten überwachen die Einhaltung des Waffenstillstandes. Die zivilen Akteure hatten einst die Aufgabe, die teilnahmeberechtigte Bevölkerung für ein Referendum über die Zukunft der Westsahara zu identifizieren sowie die Voraussetzung und Modalitäten für die Durchführung eines Referendums zu schaffen. Die Vorbereitungsarbeit für das Referendum scheiterte jedoch am Streit über die Frage der wahlberechtigten Bevölkerung. Insbesondere Marokko war bemüht möglichst viele marokkanische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in das Wählerverzeichnis aufnehmen zu lassen. Die Frente Polisario lehnt dies vehement ab. 2000 lehnten Algerien und die Frente Polisario einen Kompromissvorschlag, 2004 dann Marokko den „Baker-Plan II ab.“ Marokko äußerte als Begründung Sicherheitsbedenken und erklärte es werde jetzt und auch in Zukunft keinem Referendum mehr zustimmen, dass die Unabhängigkeit der Westsahara als Option enthalte. Seither spricht keine Resolution des Sicherheitsrates mehr von einem Referendum, sondern von einer „beidseitigen akzeptablen Lösung, welche das Recht zur Selbstbestimmung der Menschen in der Westsahara beinhalten muss.“

Ein Scheitern von MINURSO muss verhindert werden

Trotz der Ohnmächtigkeit des politischen Prozesses möchten die Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates eine Rückkehr des politisch arbeitenden Personals. Denn die zivile Komponente übernimmt wichtige logistische Aufgaben, ohne welche die militärische Komponente nur kurzfristig fortgesetzt werden kann. In seinem diesjährigen Report über die Situation in der Westsahara wählt Ban Ki-moon deshalb drastische Worte und warnt vor der Möglichkeit eines ausgewachsenen Krieges, sollte MINURSO nicht seine volle Kapazität zurückerlangen. Zudem sind das Personal von MINURSO Augen und Ohren der VN. Die Mission ermöglicht den direkten Kontakt mit der lokalen Bevölkerung und das Bereitstellen zuverlässiger Informationen, Analysen und Bewertungen der politischen Lage vor Ort.

Stille Diplomatie oder öffentlichkeitswirksame Einmischung

Jedoch haben die Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrates unterschiedliche Interpretationen wie MINURSO seine volle Personalstärke zurückerlangen kann. Zwei oppositionelle Lager haben sich herauskristallisiert. Die oben zitierten Staaten, mit engen Beziehungen zu Marokko, befürworten eine zurückhaltende Position des Sicherheitsrates. Die 15-Mitglieder des Rates sollen auf „stille Diplomatie“ und „bilaterale Gespräche“ mit Marokko setzen. Jede öffentlichkeitswirksame Einmischung wirke nur als Brandbeschleuniger, lautet das Argument. Forderungen Marokko zurechtzuweisen oder sich hinter die Institution des Generalsekretärs zu stellen, erteilen diese Staaten deswegen eine Absage. Marokko würde solche Handlungen als Zuspruch für den Besatzungskommentar werten.

Hingegen befürworten Uruguay, Angola, Venezuela und Neuseeland eine öffentlichkeitswirksame Einmischung des Sicherheitsrates. Mit Ausnahme Neuseelands hat diese Gruppe die DARS völkerrechtlich anerkannt. Diese Staaten argumentieren, dass die VN ihre Kredibilität verteidigen müsse. Marokkos Vorgehen, akkreditierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer VN-Mission des Einsatzgebietes zu verweisen, stelle einen Präzedenzfall dar. Sollte dieser unbeantwortet bleiben, könnte es als neues politisches Druckmittel hoffähig werden, wird argumentiert. Zudem breche Marokko mit seinem Vorgehen internationales Recht. Artikel 25 der VN-Charta verpflichtet alle Staaten dazu, einen Beschluss des Sicherheitsrates, in diesem Fall die Arbeit der Friedensmission MINURSO zu ermöglichen, umzusetzen. Die Autorität des mächtigsten VN-Gremiums sei damit direkt angegriffen. Weiterhin wünscht sich diese Gruppe, dass der Sicherheitsrat die entstandene Dynamik ins positive wendet. Marokko und die Frente Polisario sollen nach 12 Jahren endlich wieder zu echten Verhandlungen über eine politische Lösung des Konfliktes animiert werden.

Sicherheitsrat entscheidet sich für Passivität

Am vergangenen Freitag hat der Sicherheitsrat MINURSO routinemäßig um 12 Monate verlängert. Uruguay und Venezuela stimmten gegen den Text, Angola, Neuseeland und Russland enthielten sich der Abstimmung. Damit wurde erstmals seit 2000 der Konsens bei Resolutionen über die Westsahara gebrochen.

Der Text der Resolution zeigt, dass sich die Vertreter einer abwartenden und passiven Haltung durchsetzen konnten. Der Text betont die Notwendigkeit, dass MINURSO seine “volle Kapazität“ zurückerlange. Das Gremium zeigt sich besorgt, dass das zivile Personal seine Aufgaben momentan nicht erfüllen kann. Ein konkreter Verweis auf die Ausweisung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch Marokko fehlt. Entsprechend beinhaltet die Resolution auch keine explizite Aufforderung an das Königreich, ziviles Personal wieder einreisen zu lassen. Als einzig konkrete Maßnahme beauftragt die Resolution den Generalsekretär innerhalb von 90 Tagen zu berichten, ob MINURSO wieder volle Funktionsfähigkeit erlangt hat. Sollte diese nicht widerhergestellt sein, so hat der Sicherheitsrat die „Absicht“ zu „überlegen“, wie die Funktionalität wieder hergestellt werden könnte. Konkrete Handlungsoptionen werden nicht benannt oder angedeutet.

Der eingeschlagene Weg erklärt sich insbesondere durch die starke Position der USA und Frankreich im Verhandlungsprozess. Die USA sind federführend beim Thema Westsahara. Damit haben sie das Initiativrecht für einen Resolutionsentwurf inne. Gemeinsam mit Frankreich haben sie den Text zuerst in der „Group of Friends of Western Sahara“ zirkuliert. In dieser ist keiner der vier Vertreter einer öffentlichkeitswirksamen Einmischung Mitglied. Entsprechend stark wurde der Verhandlungsprozess als intransparent angeprangert. Die verbliebenen Mitglieder des Sicherheitsrates erachteten eine Erneuerung des Mandates für zu wichtig um ihre Zustimmung zu verweigern.

Simon Leuschner


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